Awareness ist kein Festivaljob - Verantwortliches Miteinander durch systemische Awareness

Publiziert am 19.06.2025

Der Artikel „Awareness ist kein Festivaljob“ aus der Broschüre des #HackSexism - Social Hackathon gegen Sexismus und sexualisierte Gewalt auf Festivals betont, dass Awareness-Arbeit mehr ist als eine Dienstleistung auf Veranstaltungen. Er fordert eine dauerhafte, strukturelle Verankerung von Awareness in der gesamten Festivalorganisation, um nachhaltige Veränderungen zu bewirken.

Schauplatz Festival. Eine Person lehnt sich über den Tresen zum Barpersonal und fragt nach Panama. In einem nachgeschobenen Satz erwähnt sie, dass sie sich gerade nicht sicher fühle. "Möchtest du hinter die Bar kommen und dich kurz setzen?" bietet die Mitarbeiterin an. Sie fragt nicht, was passiert ist, denn sie weiß: Das Codewort Panama steht für das Bedürfnis, Unterstützung zu bekommen. Vor Ort gibt es ein Team, welches in solchen Fällen professionell helfen und einen Rückzugsort anbieten kann: das Awarenessteam.

In den letzten Jahren sind zahl- reiche Konzepte entstanden, die Codewörter, Erkennungssymbole oder auch nichts dergleichen enthalten. Wenn wir Awareness etablieren wollen, können wir keine Schablone auf vorhandene Festivals legen – im Gegenteil gilt es, überholte Strukturen auseinanderzunehmen, sie zu überdenken und neu zusammenzusetzen. Was allerdings existiert, und woran wir uns im Prozess orientieren können, sind Richtlinien, Standards und Best Practices in der Awarenessarbeit.

Festivals als Spiegel der Gesellschaft?

In unserem Beispiel wurde zwar so erfolgreich ein Awarenesskonzept kommuniziert, dass Besucher*innen wissen, wie und wo sie Unterstützung erhalten. Die Strukturen, die eine Grenzüberschreitung begünstigt haben, bestehen allerdings trotzdem. Nun könnten wir berücksichtigen, dass Festivals ein Spiegel der Gesellschaft sind, in denen vorherrschende Machtstrukturen und Diskriminierungen genauso wirken wie überall. Doch genau dieses Denken und die Negierung der eigenen Verantwortung bescheren uns Nachrichten über sexualisierte Gewalt im Publikum oder strukturellen Sexismus am Arbeitsplatz.

Und wer möchte schon feiern in einem System, in dem Missstände mit ei- nem eskalativen Charakter gerechtfertigt werden, bei dem der Spaß an erster Stelle steht? Der Spaß, der nur aufrechterhalten werden kann, wenn bestimmte Gruppen Gewalt und Benachteiligung als Preis dafür hinnehmen.

Festivals – auch wenn nur als temporäre Zusammenkünfte – dürfen sich ihrer gesellschaftlichen Verantwortung nicht entziehen und müssen dafür sorgen, dass sich alle sicher fühlen können. Als präventive Maßnahmen können solche betrachtet werden, die aktiv Diskriminierung, Grenzüberschreitung und Benachteiligung vorbeugen. Awarenessstrukturen ermöglichen Spaß für alle. Gerade Festivals als eigene Mikrokosmen können eine nachhaltige Veränderung anstoßen, bei der wir innen beginnen und uns nach außen vorarbeiten.

Awareness ist keine Dienstleistung!

Die Unterstützungsarbeit, die ein Awarenessteam vor Ort leistet, ist eine interventive Maßnahme und damit nur ein Teil des Kon- zeptes. Awareness ist kein Festivaljob. Sie kann und darf nicht als Dienstleistung verstanden werden, die ein*e Veranstalter*in hinzubucht. Dem voran müssen präventive Maßnahmen ergriffen werden, um Grenz- überschreitungen zu verhindern, bevor sie überhaupt passieren.

Wir müssen nicht mehr debattieren, ob wir Awareness-Strukturen brauchen. Wir müssen definieren wie Veranstalter*innen sie so in ihr Event integrieren, dass eine Entwicklung von innen heraus angestoßen wird, anstatt durch ein von außen aufgestülptes Schema forciert zu werden. Hierfür gilt es, sich mit den Bedürfnissen der Involvierten auseinanderzusetzen. Das bedeutet, dass alle Beteiligten die Möglichkeit haben sollten, zu Wort zu kommen und das Konzept aktiv mitzugestalten. Nur wenn wir alle Perspektiven berücksichtigen, können wir ein inklusives und diskriminierungsärmeres Umfeld schaffen.

Ein Awarenesskonzept benennt die kollektive Verantwortung aller, die im Prozess der Vorbereitung und Umsetzung eines Festivals beteiligt sind: Besucher*innen, Dienstleister*innen, Externe, Künstler*innen, Organisator*innen und Mitarbeiter*innen.

Veranstalter*innen fällt hierbei die Rolle der Initiator*innen zu, die als ersten Schritt ihre internen Strukturen reflektieren müssen und dadurch Problembewusstsein in anderen Bereichen anstossen. Erst dann können Veranstalter*innen alle anderen mit ihren eigenen Ressourcen unterstützen.

Der Prozess kann mit der Förderung von Diversität im Team beginnen: Es sollte sich gefragt werden, welche Perspektiven noch nicht vertreten sind. Gibt es beispielsweise Personen, die trans sind, schwarz sind oder eine Behinderung haben? Eine weiße cis-Person ohne Behinderung kann nicht aus Erfahrung wissen, welche Herausforderungen und Diskriminierungen damit einhergehen. Sie kann nur zuhören, als Verbündete handeln und mit marginalisierten Gruppen sprechen, nicht über sie. Wir brauchen Perspektivenvielfalt, damit sie sich durch Stimmen und Taten von Vertreter*innen auch in der Diversität des Bookings, der Crew on site und den Besucher*innen wiederfindet.

Von innen nach außen: Systemische Awareness

Veränderung passiert von innen nach außen – innen meint hier die individuelle Reflexion einer jeden beteiligten Person und die internen Teamdynamiken, wogegen außen die Beziehungen zu Externen und Besucher*innen einschließt. Erst, wenn jede Person im Kosmos Festivalvorbereitung und -durchführung ein Bewusstsein von Machtverhältnissen und Privilegien entwickelt hat, kann ein ganzheitliches Awaren- esskonzept langfristig Bestand haben.

Unter dem Wort Awareness verstehen wir das Bewusstsein für Situationen, in denen Grenzen von Personen überschritten werden. Systemische Awareness benennt darüber hinaus die kollektive Verantwortung für Grenzüberschreitungen und betrachtet die Prozesse, die innerhalb des Systems notwendig sind, um Veränderungen anzustoßen. Im System Festival gibt es zwischenmenschliche und intrapersonale Wechselwirkungen, die bei der ressourcen- und lösungsorientierten Unterstützungsarbeit Berücksichtigung finden.

Systemische Awareness betrachtet demnach gezielt, was jede Person in ihrer Rolle braucht, um selbstwirksam Reflexions- und Veränderungsprozesse anzustoßen. Möglichkeiten, Raum dafür zu schaffen, sind Schulungen, Umfragen, eine unab hängige Beschwerdestelle oder Empowermentgruppen. Das Ziel ist es, diskriminierende Strukturen innerhalb des Teams abzubauen und ein Umfeld zu schaffen, in dem sich alle sicherer und ermutigt fühlen, sich selbst entwickeln zu können. Durch einen gemeinsam definierten Code of Conduct können Werte nicht nur artikuliert, sondern auch gelebt werden.

Systemische Awareness betrachtet nicht nur Grenzüberschreitungen zwischen Personen, sondern benennt ganz explizit die kollektive Verantwortung für diese Situation in Prävention und Intervention.

Kommunikation auf Augenhöhe

Was sich durch den gesamten Prozess ziehen sollte, ist eine Kommunikation auf Augenhöhe. Bei Informations- und Diskussionsangeboten für Mitarbeiter*innen und Gästen sollten die verschiedenen Hintergründe und Wissensstände in Betracht gezogen werden, damit eine progressive Diskussion und Selbstreflexion möglich wird. Die Glaubwürdigkeit und Effizienz eines Awarenesskonzeptes hängt zudem stark davon ab, wie sehr sich Führungspersonen selbst in die Arbeit mit einschließen. Bemühen sich auch Abteilungsleiter*innen um eine genderinklusive Sprache?

Je gewaltfreier und diskriminierungsärmer Konversationen ablaufen, desto mehr Raum bekommt eine gesunde Feedbackkultur. Die Arbeit mit Expert*innen bringt hier eine wertvolle Außenperspektive hinein. Der Anspruch auf Teamebene sollte sein, eine Vorbildfunktion für alle einzunehmen, die im weiteren Verlauf mit in die Verantwortung genommen werden sollen.

Kommunikation auf Augenhöhe heißt niederschwelliger Einstieg und Berücksichtigung unterschiedlicher Wissensstände, wertschätzende, gewaltfreie, inklusive und gendersensible Kommunikation, abwechslungsreiche und informative Aufklärung über wechselnde Schwerpunkte, Transparenz eigener Prozesse und aktives Fragen nach Kritik, an die Zielgruppe angepasste Kommunikationskanäle sowie Miteinbeziehen, Benennen und Referenzieren von Initiativen, Akteur*innen und Expert*innen

Kommunikation nach außen

Im zweiten und dritten Schritt sollten nämlich nun auch Dienstleister*innen und Besucher*innen nicht nur über Awarenessmaßnahmen informiert werden. Ihnen sollte gleichzeitig auch die Option einer Mitgestaltung gegeben werden. Auch hier öffnet Kritik ein konstruktives Gespräch über unterschiedliche Auffassungen mit dem Ziel eines Konsens.

Besonders wichtig ist, transparent zu machen, an welchen Punkten durch das Festival gerade gearbeitet wird und auch, was realistisch noch nicht umsetzbar oder bis dato falsch gelaufen ist. Diese Fehlerkultur sichtbar zu machen ist für viele Festivals ungewohntes Terrain, birgt allerdings die Chance einer gemeinsamen Gestaltung, in der Feedback unmittelbar in den Prozess einfließt.

Während die Zielgruppe weiter kennengelernt wird, können Website und Social Media genutzt werden, um mittels Künstler*innen oder Multiplikator*innen über die teils neuen Themen aufzuklären. Ein Awarenesskonzept ist dann besonders wirksam, wenn es die Corporate Identity des Festivals berücksichtigt und einen hohen Wiedererkennungswert hat. Dies schafft man u.a. mit Symbolen, Icons oder Codewörtern.

So gibt es die gängigen Fragen, mit denen sich betroffene Personen an Perso- nal oder Awarenessteam wenden können: "Wo geht's nach Panama? Wo ist Luisa? Wo ist Julia?" – welche auf größeren Festivals häufig genutzt werden. Andere kreative Codes kommen von kleineren Festivals wie dem Immergut mit "Wo schläft das Gürteltier?" oder dem Jenseits von Millionen "Wo ist die Schildkröte?". Kopf & Steine hingehen hat auf ihren Festivals Habitat, Vogelball, Spektrum und Dockville die pinke Discokugel als Zeichen etabliert. Und auch das Reeperbahn Festival kommunizierte einen lila Regenschirm als Awareness-Symbol.

Der Stellenwert in der gewählten öffentlichen Kommunikation signalisiert auch die Ernsthaftigkeit, mit der das Thema angegangen wird. Wird sich getraut, Missstände offen anzusprechen oder wird Awareness als Aushängeschild für ein positiveres Image genutzt?

Um das Awarenesskonzept auch onsite sichtbar zu machen, bedarf es prägnanter und eindeutiger Kommunikation. So kann dies durch Plakate auf den
Toiletten, Flyern am Eingang, LED-Einspielern zwischen den Bühnenslots, Booklets für die Künstler*innen und Handouts für das Personal mitgedacht werden.

Je nach Genre und Zielgruppe sollte das Awarenessteam mit Westen oder T-Shirts erkenntlich gemacht werden. Auf einigen Festivals können Awarenessteam und Crew mit Buttons signalisieren, dass sie Unterstützungspersonen sind und weiterhelfen können. Eine niederschwellige Möglichkeit für Besucher*innen, sich mit Werten und Konzept vertraut zu machen, sind Infoteams, die Interaktion und Austausch anbieten.

Alle Menschen, die auf dem Festival zusammenkommen, müssen das Awarenesskonzept kennen. So kann eine Person, die eine Grenzüberschreitung erlebt hat, sich an die Mitarbeiterin an der Bar wenden und sichergehen, dass sie dort gehört wird.

Ein verantwortliches Miteinander entsteht dann, wenn sich alle ihrer Rollen, Grenzen und den Konsequenzen ihres Handelns bewusst sind und gemeinsam an einem diskriminierungsfreieren und sicherem Festival arbeiten. Veranstalter*innen fällt hier ganz klar die Rolle der Initiator*innen zu, die einen kontinuierlichen Prozess ermöglichen. Und dieser Prozess beginnt innen.

Präventive Maßnahmen

Als präventive Maßnahmen können solche betrachtet werden, die aktiv Diskriminierungen, Grenzüberschreitungen und Benachteiligungen vorbeugen:

  • Schulungen und Workshops zur Sensibilisierung des internen Teams, der Dienstleister*innen und Externen
  • Entwicklung eines Wertekodex als Handlungsrichtlinie
  • Kontinuierliche Informations- und Aufklärungsangebote
  • Beschwerdemanagement und Diversity-Beauftragte
  • Umfragen im Team und bei Besucher*innen
  • Gender- und diskriminierungssensible Sprache in interner & externer Kommunikation

Interverntive Maßnahmen

Als interventive Maßnahmen werden solche definiert, die nach einer Diskriminierung, Grenzüberschreitung oder Benachteiligung als Unterstützungsangebot für Betroffene greifen:

  • Divers aufgestelltes und geschultes Awarenessteam
  • Gemütlich eingerichteter Rückzugsort mit Privatsphäre
  • Unterstützung durch weitere Initiativen für gewählte Schwerpunkte wie Psycare oder Psycholog*innen
  • Klar definierte Zusammenarbeit mit Gewerken wie dem medizinischen Rettungsdienst
  • Allen bekannte Melde- und Handlungskette inklusive Konsequenzen bei grenzüberschreitendem Verhalten
  • Nachbereitung der Fälle und Aftercare für das Team